Rede des OV-Vorsitzenden G. Großpietsch zum 1. Mai 2009
Wenn der 1. Mai unter dem Motto steht „Arbeit für alle bei fairem Lohn“, müssen wir auch die Voraussetzungen für die Chancen auf fairen Lohn betrachten.
Faire Chancen auf dem Arbeitsmarkt setzen voraus, dass das Land Baden-Württemberg den in Artikel 11 der Landesverfassung festgeschriebenen Anspruch einlöst. Dort heißt es: „Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung. Das öffentliche Schulwesen ist nach diesem Grundsatz zu gestalten.“
Nicht nur die PISA-Studien belegen: In keinem anderen Land der OECD hängt der Schulerfolg so sehr von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Das ist eine klare Verletzung der Landesverfassung. Ich fordere Ministerpräsident Oettinger auf, endlich für Chancengleichheit zu sorgen! Ich erwarte, dass er nicht nur plakativ das Kinderland Baden-Württemberg ausruft, sondern durch eine klare Kurskorrektur in der Haushalts- und Bildungspolitik für Chancengleichheit sorgt.
Lasst mich diese ungerechte und konzeptionslose Bildungspolitik mit Beispielen belegen: Ich beginne mit der frühkindlichen Bildung. Baden-Württemberg bildet bundesweit das Schlusslicht bei der Zahl der Kinderbetreuungsplätze unter 3 Jahren. Obwohl alle, die klar denken können, wissen, dass es wesentlich effektiver und auch billiger ist früh zu investieren, statt spät zu reparieren, weigert sich das Land Baden-Württemberg konsequent, eine gute Sprachförderung in den Kindertageseinrichtungen und Grundschulen zu installieren. Die Sprachförderung wird ausschließlich durch die Landesstiftung finanziert, aber nur für Kinder unter 5 Jahren.
Ist es fair, dass das Land selbst kein Geld für Sprachförderung ausgibt? Nein, sicher nicht! Sprachförderung wird so nicht als staatliche Aufgabe betrachtet!!! Ist es fair, dass sich im Bildungsbereich die Bezahlung nach dem Alter der Kinder richtet? Wer mit kleinen Kindern arbeitet, bekommt ein kleines Gehalt, wer mit Größeren arbeitet, bekommt ein größeres Gehalt. Das ist nicht nur bei den Erzieherinnen und wenigen Erziehern so, sondern auch bei den Lehrerinnen und Lehrern an der Grundschule. Nein, das ist nicht fair! Denn die Arbeit mit kleinen Kindern ist keinesfalls weniger wert als die Arbeit mit Gymnasiasten.
Die unfairen Chancen setzen sich in der schulischen Bildung nahtlos fort. Wusstet ihr, dass sich trotz aller mit Selbstlob gespickten Pressemitteilungen des Kultusministeriums im Kinderland Baden-Württemberg die Unterrichtsversorgung in den letzten 20 Jahren nicht verbessert, sondern verschlechtert hat? Und das trotz nicht einfach werdender Kinder. Kein Wunder: Bezogen auf das Brutto-Inlandsprodukt sind die Bildungsausgaben in den vergangenen Jahren ständig zurückgegangen und liegen in Deutschland weit unter dem OECD-Durchschnitt.
Verwunderlich ist deshalb nicht, dass es an den Grund- und Hauptschulen je Klasse und Woche im Schnitt nur 15 Minuten Förderunterricht gibt.
Was brauchen die Schulen?
Wir brauchen vor allem kleinere Klassen. Wir brauchen mehr Zeit für die Lehrerinnen und Lehrer, die z. B. in die Zusammenarbeit mit den Eltern investiert werden kann.
Ich behaupte, dass dies den Kindern und Jugendlichen hilft. Ich behaupte auch, dass viele Eltern Beratung und Unterstützung in Erziehungsfragen gerne annehmen würden, wenn sie sie bekommen würden. Es reicht nicht aus zu sagen, Eltern müssen ihre Erziehungsaufgabe wahrnehmen und sie dann mit dieser großen Aufgabe alleine zu lassen in einer Gesellschaft, die nur an Profit, Prestige und Egoismen orientiert ist.
Ganz groß in den Schlagzeilen ist zurzeit die Hauptschule und die Frage, ob Kinder über die Grundschule hinaus gemeinsam lernen sollen. Ich frage euch: Warum soll das, was in der Grundschule 4 Jahre lang funktioniert, in Klasse 5 nicht mehr funktionieren? Nur noch 17 Länder in Europa sortieren die Kinder nach Klasse 4 auseinander. Liebe Kolleginnen und Kollegen, 16 Länder davon liegen in Deutschland. Die PISA-Sieger-Länder machen es nicht, sie lassen die Kinder zusammen.
Dabei geht es nicht darum, durch längeres gemeinsames Lernen die Leistungsanforderungen zu reduzieren, damit womöglich alle mit Abitur die Schule verlassen. Nein, es geht darum, dass das frühe Sortieren die Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft zementiert. 4 Jahre Grundschule reichen nicht aus, um den Entwicklungsbedarf, den die Kinder aufgrund ihres Elternhauses mitbringen, auszugleichen.
Es geht darum, dass die Grundschule momentan zur Schule der Auslese gemacht wird, statt Förderung erfolgt Selektion.
Was das Land jetzt mit der Werkrealschule macht, ist völlig indiskutabel. Es will Zulassungsbeschränkungen für das 10. Schuljahr einführen. Die GEW geht davon aus, dass dadurch realistischerweise mehr als die Hälfte der Schüler/innen nach der 9. Klasse zu Abbrechern der Werkrealschule werden. Das ist keine zusätzliche Chance, sondern mit größeren Versagenserlebnissen, mit Aussortieren und Beschämen verbunden.
Berufliche Schulen sollten dann als Reparaturbetriebe dieser neuen Schulform, in der auch nur getestet statt gefördert wird, herhalten, die Berufsschulen, an denen größter Lehrermangel herrscht und an denen viel zu wenige Schulplätze – auch in Berufskollegs und berufliche Gymnasien – zur Verfügung stehen. Ist das fair? Nein, das ist Verrat an der Berufsperspektivemotivierter Jugendlicher.
Um Chancengleichheit herzustellen, brauchen wir Ganztagsschulen. Dort können die Nachteile aufgrund der sozialen Herkunft ausgeglichen werden, dort ist schulische Arbeit ohne Leistungsdruck möglich, dort kann der Lernort zum Lebensort werden. Das ist allerdings nicht möglich mit der Ganztagesschule light à la Baden-Württemberg.
Wer Ganztagsschule auf Ehrenamtlichen aufbaut, kann kein bildungspolitisches Konzept erwarten. Schulen brauchen eine andere Schul- und Lernkultur. Jedes einzelne Kind muss dort abgeholt werden, wo es steht. Die Schule ist für die Kinder da, nicht die Kinder für die Schule. So lange wir unterschiedliche Schulschubladen haben, ist es leicht zu sagen, dieses Kind gehört nicht in diese Schule.
Deswegen begrüßt die GEW, dass sich in Baden-Württemberg das Netzwerk „In einer Schule gemeinsam lernen“ gegründet hat, in dem sich Elternorganisationen, Familien- und Jugendverbände, Parteien und Gewerkschaften zusammengeschlossen haben, um sich für ein gemeinsames Lernen aller Kinder bis zur 10. Klasse einzusetzen. Dieses Bündnis hat inzwischen über 100 000 Mitglieder und ich fordere euch auf, dieses Netzwerk nach euren Möglichkeiten kräftig zu unterstützen, damit die Landesregierung endlich kapiert, dass es falsch ist, Kinder auf verschieden gewertete Schularten zu verteilen. So nur können die Bildungschancen benachteiligter Kinder und Jugendlicher verbessert werden. Und da denke ich besonders auch an Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte, die durch die frühe Aufteilung auf verschiedene Schulformen besonders benachteiligt werden.
Fördern statt ausgrenzen. Kein Kind sollte beschämt und zurückgelassen werden. Das wäre fair! Das würde unsere Jugendliche in die Lage versetzen, vernünftige Lebensperspektiven zu haben. Fehlende Ausbildungsstellen, Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, soziale Verwahrlosung, nicht angenommen werden: Mitverursacher für viele schlimme Ereignisse in der Jugendwelt der letzten Zeit.
Der Staat muss ein exzellentes Bildungswesen für alle Menschen sichern. Bildung zu privatisieren oder die Kosten mehr und mehr auf den Einzelnen abzuwälzen ist der falsche Weg. Der Trend zu einem abgeschotteten privaten Bildungssystem verschärft die soziale Spaltung in unserer Gesellschaft. Das beginnt beim teuren Luxus-Kindergarten und reicht bis zur privaten Hochschule.
Ein exzellentes Bildungswesen kostet Geld. Aber die großzügigen Geldleistungen an die Banken und Unternehmen in der jetzigen Finanz und Wirtschaftskrise zeigen, wie schnell Geld locker gemacht werden kann, wenn der politische Wille da ist. Wie wär’s mit einem Konjunkturpaket für Bildung, aber nicht nur für Schulgebäude, sondern für mehr Lehrer, für bessere Rahmenbedingungen, für mehr Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen? Bei diesen Stellen ist das Kinderland Baden-Württemberg immer noch Schlusslicht in der Republik.
Zu guten Rahmenbedingungen gehört auch das Sich-Verantwortlich-Fühlen des Arbeitgebers für den Erhalt der Arbeitskraft seiner Mitarbeiter. Seit über einem Jahr warten wir vergeblich auf das von der Landesregierung zugesagte Konzept eines Arbeitsund Gesundheitsschutzes. Deshalb ist es absurd, die Altersgrenze für Lehrerinnen und Lehrer auf 67 erhöhen zu wollen, so lange es derzeit nur ein Viertel schafft, bis zum Alter von 65 zu unterrichten. Ich sage: Das ist nur eine Sparmaßnahme, eine Rentenkürzung, sie benachteiligt besonders Frauen, vernichtet Arbeitsplätze für Jüngere. Nicht beseitigt sind nach wie vor die Probleme des G 8, das die Schülerinnen und Schüler unter großen Druck setzt. Die Proteste sind berechtigt.
Lasst mich noch einen Satz zur Werbekampagne um Lehrerinnen und Lehrer sagen. Für diesen Werbefeldzug hat das Land 375 000 € ausgegeben. Mit „Sehr Guten Morgen, Frau Lehrerin“ wirbt das Land Baden-Württemberg in der ganzen Republik auf großflächigen Plakatwänden um Lehrerinnen und Lehrer. Warum? Weil das Land über viele Jahre hinweg die hier gut ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer mit befristeten Verträgen von Ferien zu Ferien beschäftigt, bzw. überhaupt nicht eingestellt hat und diese deshalb lieber in andere Bundesländer abwanderten. In den Ferien mussten diese, um Hartz IV zu bekommen ums Karlsruher Wildparkstadion Rasenmähen und Hecken schneiden, um dann nach den Sommerferien wieder beim Staat in Lohn und Brot zu sein. Auch das ist kein fairer Lohn für hochwertige Arbeit.
Lasst es mich nochmals deutlich sagen:
Um Arbeit für alle bei fairem Lohn zu erreichen, muss in Bildung und Erziehung investiert werden. Bildung und Erziehung ist unser wichtigster Rohstoff. Bildung ist MehrWert. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass alle Menschen gerechte Chancen für ein menschenwürdiges Leben haben.
Die GEW steht für eine menschliche, gerechte und solidarische Gesellschaft, in der alle unter menschenwürdigen Bedingungen arbeiten und leben können.
Danke!